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Memento mori

Quelle: Pixabay

Zum Urlaubsbeginn vor zwei Wochen habe ich mir definitiv etwas anderes gewünscht, als mit der Nase auf die Tatsache der eigenen Vergänglichkeit gestoßen zu werden. „Memento mori – Gedenke des Todes“ oder auch „Bedenke, dass du sterben musst!“, ist ein Sinnspruch der mittelalterlichen Mönche, der mit den irdischen Vergnügungen abrechnet und seitdem auch in diversen Stillleben künstlerisch umgesetzt wurde. Er hat mich durch den Kunst-Leistungskurs der Oberstufe, das kunstwissenschaftliche Studium und die Arbeit im Hospizverein hindurch begleitet. Ich komme aus einem christlichen Elternhaus und habe deshalb keine allzu große Angst vor dem Tod, und dennoch: wenn es dich möglicherweise selbst trifft, bist du möglicherweise nicht darauf vorbereitet … Die Geschichte geht harmlos aus und hat dennoch viel bewegt, das ich gerne mit euch teilen möchte.

So kam ich also an einem Freitagabend von der Weiterbildung aus dem Kloster Heiligkreuztal, um drei Stunden später ins Auto meines Mannes zu steigen und in den Familienurlaub nach Sylt zu fahren. Vorher mal schnell noch die Post öffnen, die sonst – mal wieder, räusper! – drei Wochen in Folge liegen bleiben würde. Zwischen Liebesgrüßen vom Finanzamt und Depotabrechnungen meiner Kinder fand sich auch ein kleiner Umschlag, geschickt von der gynäkologischen Praxis meines Vertrauens. Sie hätten mich telefonisch nicht erreicht (zugegeben: anonyme Anrufer haben es schwer bei mir!), ich möge mich doch mal bitte zwecks einer Befundbesprechung melden. Hm, ein paar Wochen nach der Krebsvorsorge, is klar! Da niedergelassene Ärzte freitagsabends im Gegensatz zu mir so manches Mal nicht mehr arbeiten, blieb mir also nur Abwarten bis Montag übrig.

An Schlaf auf dem Beifahrersitz war dann nicht so wirklich zu denken, weshalb ich einen großen Teil der Nachtfahrt am Lenkrad verbrachte. Und nachdachte. Und reinfühlte. Im Bekanntenkreis gab es jüngst erst wieder einige Einschläge der Volksseuche Krebs; ich denke ja immer, mich wird es nicht treffen. Zu denken, ich kann essen was ich will ohne zuzunehmen, hat sich ja immerhin seit bald 41 Jahren bewährt … Und nun dieser Brief, der mich auf meiner Reise begleitete, dieses Damoklesschwert, von dem du nicht weißt, ob und wie heftig es auf dich herabfahren wird. Was ich getan habe auf dieser Nachtfahrt, und was mich tatsächlich ziemlich ruhig, gelassen und fröhlich morgens früh um 6:30 Uhr die nackten Zehen in den Westerländer Sand graben ließ, davon will ich berichten.

1. Atmen

Seit zwei Jahren beschäftige ich mich intensiver mit meinem Atem und mit Achtsamkeitsübungen. Wenn man es regelmäßig macht, hilft es tatsächlich, ruhig zu bleiben. Die Übung ist simpel und geht überall: So tief ausatmen, wie es geht, und dann dem Körper dabei zuschauen, wie er von alleine wieder einatmet. Das macht der nämlich, vollautomatisch. Und von vorne. Die Aufmerksamkeit folgt deinem Atemfluss, und wenn ein Gedanke kommt, lässt du ihn ziehen wie die Wolken am Himmel. Mit meinem Mann diesen Brief zu besprechen während zwei doch noch recht junge Kinder auf der Rückbank sitzen – ganz schlechte Idee! Die Fahrt und das Wochenende zu einer emotionalen Abwärtsspirale werden zu lassen – auch nicht in meinem Sinne. Also Atmen. Mehr nicht, erstmal.

2. Das Worst-Case-Szenario durchspielen

60 Kilometer später, genug geatmet um ruhig nachdenken zu können. Also angenommen, ich habe eine Krebsdiagnose. Ich halte es generell in Krisensituationen gerne mit einer Übung meiner Coaching-Ausbilderin Petra Bock. Die schlägt vor, sich das Worst-Case-Szenario vorzustellen und zu schauen, ob man es überleben würde, denn schließlich ist unser Panikzentrum im Gehirn vorrangig dazu da, unser Überleben zu sichern. Ist halt sein Job, nur schlägt es dummerweise auch an, wenn es gar nicht nötig ist. Normalerweise lautet die Antwort dann „ja“. Wir Menschen können ziemlich viel überleben. Und selbst wenn man es möglicherweise nicht überlebt, hilft die Übung zumindest, ruhig zu beiben und einen Plan zu machen. Das suggeriert zumindest etwas Sicherheit für das arme Emotionszentrum. Deshalb weiter angenommen, ich überlebe das nicht. Mir geht es gut, ich habe mich von einem anderen schweren Schicksalsschlag ganz gut erholt, ich bin körperlich ziemlich fit. Da bleibt ja noch genug Zeit, um alles vorzubereiten. Vor ein paar Monaten las ich von einer britischen Prominenten, deren Name mir entfallen ist. Die hat es leider wirklich getroffen. In meinem Alter, mit kleinem Kind. Sie ist jetzt tot. Und hat zuvor darüber gebloggt, wie sie noch bis zum 21. Lebensjahr ihres Sohnes Geburtstagsgeschenke vorab gekauft hat, damit er jedes Jahr ein Geschenk von ihr bekommt. Fand ich großartig, das kam als erstes auf die To-Do-Liste. Dicht gefolgt von der Überlegung, wer die Kinder nimmt, sollte auch der Vater vor ihrem 18. Geburtstag das Zeitliche segnen. Dritter Punkt, ganz wichtig: was mache ich mit meinen Tagebüchern? Verbrennen? Meinen besten Freundinnen schenken? Veröffentlichen … äh, nein! Und wer soll alles zu meiner Beerdigung kommen? Ich möchte unbedingt in Darmstadt auf dem Waldfriedhof oder zumindest auf irgendeinem Friedhof in meiner gefühlten Heimatstadt begraben werden. Dafür braucht man aber auch einen Wohnsitz in Darmstadt, oder?! Also gleich mal eine Zweitwohnung suchen … Und welche Musik soll gespielt werden? Was möchte ich bis zum Tag X nach Möglichkeit noch erleben? Ihr wisst schon, die berühmte Löffelliste: Dinge, die man unbedingt noch tun möchte, bevor man den Löffel abgibt. Wenn ich nur noch einmal nach diesem Urlaub verreisen könnte, wo soll es hingehen? Patagonien steht zumindest weit oben auf der Liste. Angst hatte ich lediglich beim Gedanken an die tausend Nadeln, die sie im Laufe der Behandlung vermutlich in mich reinstecken würden – ich hasse Spritzen über alles und lasse beim Zahnarzt ohne Narkose bohren! – aber mit dem Gedanken an die Löffelliste, die ich für gewisse Teilaspekte des Lebens bereits vor einiger Zeit geschrieben habe, kam die Traurigkeit.

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3. Die eigenen Herzenswünsche anerkennen und ernstnehmen

Ich musste plötzlich an all das denken, was ich noch nicht geschafft habe, und was ich Jahr für Jahr erneut auf die Wunsch- bzw. To-Do-Liste setze. Und dann kommt wieder so viel dazwischen. Mein zweites Sachbuch. Mein erster Roman. Meine Malerei. Mein Spiel. Vieles begonnen, aber aktuell liegt es in der Schublade. Mein Reiten verfeinern, mit Pferden tanzen. Es gibt da ein paar Gespräche, die vielleicht geführt werden sollten sowie eine Entschuldigung, die mich erleichtern würde und auf die ich warte, auch wenn es für sie wohl viel zu früh ist. Kann ich sie forcieren? Wohl kaum, also Geduld, der Tag wird kommen! Aber werde ich den Tag noch erleben? Erfahrungsgemäß muss ich ein paar Jahre warten … Und dann ist da all das, was ich gelernt habe, all das was ich kann – war das nun in Relation auf die nächsten 30 Arbeitsjahre gesehen umsonst? Kann ich den für Oktober geplanten Workshop noch leiten? All die Menschen, denen ich weiterhelfen könnte und die mich noch nicht gefunden haben. All die Unternehmen, die ich gerne in ihren Transformationsprozessen begleiten möchte, bei denen ich vielleicht etwas energischer an die Tür klopfen könnte, als ich es in der Vergangenheit tat. Wo ist die Fokussierung auf das Wesentliche? Auf meinen Wunsch, auf mein Bedürfnis und meine Gewissheit, mit meinen Talenten zu Frieden, Verständnis, Heilung und Entfaltung beitragen zu können? Wie oft habe ich meine Zeit vertrödelt? Wie oft bin ich Dingen mit all meiner Energie hinterhergelaufen, die zwar kurzfristig Spaß machten, langfristig aber nicht auf meinen Herzenswunsch einzahlten?

Ankunft auf Sylt am frühen Morgen nach einer „arbeitsreichen“ Nachtfahrt …

Aufstehen mit „Memento mori“

Vielleicht ist es etwas, womit wir Menschen tagtäglich aufstehen sollten: der Gedanke an den eigenen Tod und die Dankbarkeit, wenn man gesund ist. Ich kenne so viele Menschen, die von Tod und Sterben nichts hören wollen – ich rede recht häufig darüber und werde dann gebeten, das Thema zu wechseln. Verdrängung par excellence. „Was hast du mit deiner Zeit gemacht?“, werden wir angeblich eines Tages von Gott gefragt werden. Ob man an Gott glaubt oder nicht, vielleicht ist es sinnvoll, sich schon zu Lebzeiten die gleiche Frage zu stellen. Vielleicht macht es einen Unterschied, sich dessen bewusst zu werden, dass wir nicht ewig auf dieser Erde sind. Zu lernen, die Zeit nicht mit unnützen Dingen zu vergeuden und die für die eigenen Wünsche und Ziele richtigen Prioritäten zu setzen. Vielleicht macht es einen Unterschied für mich, was ich erlebt habe; auch wenn mir streng genommen keiner meiner hier notierten Gedanken neu war, so war es dennoch ein freundlicher Tritt in den Hintern, noch den Urlaub zu genießen um dann nach Monaten der durchaus auch Corona-bedingten Schonzeit mal wieder in die Gänge zu kommen. Der Rückruf der Ärztin am Montag nach meinem Urlaubsbeginn gab mir die letzten Prozent Ruhe zurück, der Grund des Briefes war ein völlig harmloser! Ich könnte mich jetzt ärgern, dass die depperte Arztpraxis das nicht gleich reingeschrieben hat. Ich habe beschlossen, mich lieber über die erteilte Lektion zu freuen und meine geschenkte Zeit noch besser zu nutzen. Also, ich bin jetzt wieder da!

Vielleicht macht es einen Unterschied für euch, liebe Leserinnen und Leser, dass ich diesen Text veröffentlicht habe.
Ich wünsche es mir.

 

 

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