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Beobachten ohne zu bewerten

Der erste Schritt der Gewaltfreien oder Wertschätzenden Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg besteht darin, zu beobachten, ohne zu bewerten oder zu interpretieren. „Es ist einfach, aber nicht leicht“ – mit diesem Zitat Rosenbergs werden die vier Schritte oft verbunden, und bereits an dieser Stelle wird deutlich, warum. Dennoch: die Mühe lohnt sich! 

Ich stehe der IT-Welt nahe, der Welt der Bits & Bytes, in der nicht bei Eins angefangen wird zu zählen, sondern bei Null. Du wirst mit der GFK nicht weit kommen, wenn du Schritt 0 überspringst. Schritt 0 steht so in keinem Lehrbuch. Er ist für mich, sich bewusst für die GFK zu entscheiden. Es macht einen Unterschied, ob du da so reinstolperst, es mal halbherzig ausprobierst weil deine Freundin es sich wünscht, du innerlich schon zu Beginn genervt bist und eigentlich gar nicht willst, eine neue Manipulationsmethode suchst, … oder ob du ein ernsthaftes und aufrichtiges Interesse daran hast, mit deinem Gesprächspartner in Kontakt zu kommen und von Mensch zu Mensch auf Augenhöhe zu kommunizieren. Ob du gerne wissen möchtest, worum es hier gerade wirklich geht in eurem Disput, oder ob du einfach Recht haben willst. Ob du ein echtes Interesse an deinem Gegenüber hast, oder ob du dein Ding durchziehen willst, ohne Rücksicht auf Verluste.

Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns. Wenn du dich dafür entscheidest, in Kontakt kommen zu wollen, dann können wir hier weitermachen.

Ein Problem, dass alle Menschen gemeinsam haben, weil wir – ja, tatsächlich! – alle ein Gehirn haben, ist: Sobald wir etwas wahrnehmen – sehen, hören, riechen, schmecken, spüren – sortieren wir es vollautomatisch ein. Wir gleichen es rasend schnell mit den in unserem Kopf gespeicherten Erinnerungen und Erfahrungen ab: bekannt oder unbekannt? Wir bewerten es: gut oder böse? Richtig oder falsch? Und genauso schnell bilden wir uns meist eine Meinung darüber: „Das macht man nicht!“ „Es ist nicht angemessen, dass …“ „Menschen, die so etwas tun, sind …“ Wir fällen ein Urteil, das oft nicht auf Wissen, sondern lediglich auf Vermutung oder Interpretation beruht. Das kann so weit gehen, wie Paul Watzlawick es in seiner Anleitung zum Unglücklichsein beschreibt, als der Protagonist, der gerne einen Hammer beim Nachbarn ausleihen möchte, sein Kopfkino anwirft. Er stellt sich vor, wie der Nachbar ihm den Hammer nicht geben möchte, und aus der Erinnerung an eine vergangene Begegnung im Treppenhaus wird plötzlich der Gedanke, der Nachbar könne etwas gegen ihn haben und darüber hinaus ein schlechter Mensch sein. Das Ende der Geschichte ist weithin bekannt: Der Mann klingelt in rasender Empörung beim Nachbarn und blafft sowas wie „Behalten Sie doch Ihren blöden Hammer selbst, Sie Idiot!“

Wie oft traust du dich nicht, um etwas zu bitten, weil du Angst vor Ablehnung hast? Wie oft machst du etwas nicht, weil du denkst, du kannst es nicht? Wie oft bildest du dir eine Meinung über einen bestimmten Sachverhalt, ohne ausreichend Tatsachen geprüft zu haben? Um solche Situationen zu vermeiden, ist es hilfreich, einen Schritt zurückzutreten: Lass die Meinung, dein Gegenüber sei ein egoistisches Miststück oder du selbst seist ein unfähiger Angsthase* mal für einen Moment los. Schalt den Empathie-Modus ein, den Knopf dafür findest du in dir. Entscheide dich bewusst dafür. Und dann mach den ersten Schritt. Schau hin. Hör hin.

Was kannst du beobachten?
Was siehst du?
Was hörst du?
Lass alles weg, was du über die Person oder die Angelegenheit zu wissen meinst.
Lass alles weg, was sich nicht unmittelbar wahrnehmen lässt.
Eine Beobachtung ist dann neutral, wenn ein Dritter, der keinerlei Aktien im Spiel hat, daneben stehen würde und sagen könnte: „Ja, das sehe ich auch: Hier liegt ein Hammer auf dem Tisch“ (statt: „Max ist immer so unordentlich!“).
Oder: „Tina hat eben die Augenbraue hochgezogen und den Kopf geschüttelt“ (statt: „Tina ist schon wieder total überheblich!“).
Ich stelle mir immer gerne vor, mein eigener Schatten sei ein neutraler Beobachter. Er ist immer bei mir und ich kann ihn befragen, was er denn gerade wahrgenommen hat.

„Observing without evaluating is the highest form of human intelligence.“ J. Krishnamurti

Tipps:

  • Vermische deine Gedanken, Interpretationen und Urteile nicht mit der Situation.
  • Wörter wie ‚nie’, ‚immer’, ‚selten’ oder ‚häufig’ sind Indizien dafür, dass es sich bei deinen Worten um Bewertungen handelt.
  • Auf eine echte neutrale Beobachtung kann nicht – oder nur sehr schwer – mit „stimmt doch gar nicht!“ geantwortet werden, was einer anstrengenden Diskussion oder einem drohenden Streit keinen Nährboden liefert.
  • Wenn du es üben willst, schnapp dir ein Notizbuch und beginne, eine Woche lang deine Umwelt neutral zu beobachten und deine Beobachtungen festzuhalten. Was siehst und hörst du, das dein neutraler Schatten oder ein unbeteiligter Dritter auch hätte wahrnehmen können? Noch ein Beispiel: „Ruths Handy hat in der letzten Stunde drei Mal geklingelt“ statt „Ruth stört mit ihrem Privatkram schon wieder alle Leute im Büro“.

Fragen? Schreib mir gerne eine Mail oder kommentiere den Beitrag.

*Ja, du kannst dir auch selbst Empathie geben und die GFK im Gespräch mit dir selbst anwenden!

Bild von Alexandr Ivanov auf Pixabay

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